Der moderne Bücherwurm in Wolfenbüttel

Juni 2025

 „Der Bücherwurm“ – BeNeR 2025 – Foto von Verena Maier

Nachdem ich 2024 auf dem Magnikirchplatz in Braunschweig eine mobile Leinwand im Rahmen des Hola Utopia Street-Art-Festival gestalten durfte, lud mich der Kurator Enrico Hoppe dieses Jahr für eine große Fassade in Wolfenbüttel (Lange Str. 12a) ein.

In Anlehnung an meine aktuelle Ausstellung „Romantic Rebellion“ habe ich eine klassische Bildvorlage der Kunstgeschichte neu interpretiert: Carl Spitzweg’s „Der Bücherwurm“ von 1850. 

Spitzweg’s Bücherwurm ist ein Bild, das ich seit meiner Kindheit kenne (meine Oma war großer Spitzweg-Fan und hatte viele seiner Bilder als Ölkopien im Flur hängen): Ein Mann auf einer Leiter, vertieft in Bücher, umgeben von Regalen. Für das Hola Utopia wollte ich diese Ikone nicht nur zitieren, sondern sie mit meiner eigenen Biografie und mit dem lokalen Kontext verweben.

Wolfenbüttel ist die Stadt, in der der bedeutende Dichter der Aufklärung Gotthold Ephraim Lessing wirkte und lange als Bibliothekar arbeitete — und Lessings Gedanken über Wissenschaft und Kunst haben das Konzept mitgetragen.

Die Wand vor der Gestaltung

In meiner Version stelle ich mich selbst auf die Leiter – als Graffiti-Writer, auf der Suche nach neuen Einflüssen, nach Tiefe, nach Style. Die Bücherregale sind gefüllt mit Spraydosen, alten Blackbooks, einer Boombox, Vinylplatten, Relikten aus der Hip-Hop-Welt. Die Bibliothek wird zum Writer-Archiv – ein Ort, an dem Geschichte, Stil und Identität lagern. Das Wandbild spielt bewusst mit Kontrasten: Hochkultur und Subkultur, Aufklärung und Rebellion, Vergangenheit und Gegenwart.

Als typografisches Zitat habe ich Lessings Satz integriert:

„Der Endzweck der Wissenschaft ist Wahrheit. Der Endzweck der Künste hingegen ist Vergnügen.“

Damit setze ich Lessing‘s Idee in Beziehung zur urbanen Kreativkultur: Graffiti ist nicht nur Ausdruck, sondern Erleben – eine Kunst des Vergnügens und der Begegnung. Es ist ein Statement dafür, dass Wissen und Vergnügen Hand in Hand gehen können – und dass Kunst, egal ob in Büchern oder an der Häuserwand, immer vom Menschen und seiner Neugier erzählt.

Unter dem diesjährigen Motto des Festivals „Menschenbilder“ rückt mein Mural den Menschen in den Mittelpunkt – einmal als klassischer Leser, einmal als Writer, der Wissen nicht nur konsumiert, sondern aktiv formt. Die Person auf der Leiter wird so zur Metapher für Selbstermächtigung und kulturelle Teilhabe.

Der Bücherwurm ist damit eine visuelle Brücke, zwischen dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart, zwischen literarischer Bildung und Street Art, zwischen Wolfenbüttel und globalem Austausch. Auch Sprühdose, Marker und Rap-Musik können Teil eines zukunftsfähigen Dialogs über Stadt, Kultur und Gemeinschaft sein.

Während der sechs-tägigen Arbeit hatte ich täglich Zuschauende, Anwohner blieben stehen, Kinder zeigten auf die große Wand, und ältere Herrschaften erkannten direkt die Spitzweg-Referenz. Genau so soll öffentliche Kunst wirken: sie provoziert Gespräche, schafft Begegnungen und lädt zur Identifikation ein.

Danke an das Hola Utopia-Team für die Einladung und vor Allem die perfekte Organisation, an den Eigentümer für die Offenheit und an meine Assistenten Paul, Lenny und Ragnar für die Hilfe.